Parabel “Über die Feuervogel-Zauberin Humo und ihr faires Gericht”
Es war einmal vor langer eine wundersame Feuervogel-Zauberin namens Humo, die damals unter den Menschen lebte. Ihre Flügel waren so bunt wie der hellste Regenbogen. Über ihren Kopf strahlte das Licht wie die Morgenröte auf – so glänzte und funkelte ihr Federkleid. Es gab kein Lebewesen, das ihr im Himmel oder auf der Erde gleichkam.
Die wundersame Humo diente den Menschen treu. Einigen, die ihre Hoffnung verloren haben, zeigte sie den Weg aus der tiefen Finsternis. Andere hat sie aus dem bodenlosen Abgrund auf ihre Flügeln gehoben. Wenn es aber um Feindschaft und Boshaftigkeit ging, konnte die allmächtige Feuervogel-Zauberin weder sehen noch hören. Sie fällte sofort ein Urteil über die Anstifter und öffnete den Menschen die Augen für das Gute und den Frieden.
Eines Tages erfuhr Humo, dass am Rande ihres Landes, in einer tiefen Schlucht der Großen Berge, ein Ungeheuer lebt – der schwarze, furchterregende Vogel. Den umliegenden Dörfern droht von ihm ein unvermeidliches Unheil: Mal wird ein Schaf vermisst, mal ein Pferd.
Und nun ist die Tochter des Oberhauptes der Dorfältesten verschwunden. Die Dorfbewohner kamen zu Humo und baten ihre Beschützerin mit Tränen, sie vor dem Ungeheuer zu schützen.
Die Menschen mussten Humo nicht lange überreden. Die bösen Taten umhüllten ihr Herz mit solch einer schweren Dunkelheit, die schlimmer war als die Nachtfinsternis selbst. Die Feuervogel-Zauberin machte sich auf den Weg. Sie flog über die Felder und Wälder, über die Steppen und Wüsten, über die Wellen des blauen Meeres in Richtung der Großen Berge.
Ein Tag verging, ein weiterer verflog, und am dritten Tag tauchten am Horizont steinernde Felsen auf, bedeckt mit weißen Schneekappen. Als Humo auf dem Gipfel eines Berges landete, wehte so eine Kälte auf sie zu, als ob der Tod selbst in ihr Herz geschaut hätte. Gruselig wurde Humo, aber sie überwand ihre Angst, hob ihren Kopf hoch und breitete ihre Flügel aus. Plötzlich leuchteten die schneebedeckten Gipfel golden auf, das Eis schmolz und strömte in klaren Bächen durch Risse und Spalten ins Tal. Ein bislang nie gesehener Regenbogen stieg über den Großen Bergen auf. Zusammen mit der Kälte verschwand die Angst aus Humos Herz. Sie schaute sich um und sah ein schwarzes Loch in einer der Spalten – den Eingang zu der dunklen und tiefen Höhle.
Vorsichtig flog Humo näher und setzte sich auf den Türschwelle-Felsen. Sie trat Schritt für Schritt in das feuchte Halbdunkel der Berge ein. Ihre Regenbogenfedern leuchteten heller, um die ewige Dunkelheit zu bezwingen. Die Humo fühlte sich sehr klein und schwach in dieser Zuflucht der Monster: Denn wer außer dem grausamen Ungeheuer mit kaltem Herzen konnte sich hier vor dem Tageslicht verstecken?
Hinter den Wänden der Höhle verging der Tag und es kam eine dunkle und schnelle Bergnacht. Dann brach ein lautes Krächzen aus, riesige Flügel schlugen laut und erweckten das schreckliche Berg-Echo. Das geflügelte Monster kehrte in sein Zuhause zurück. Humo blickte sich um: Wo konnte sie sich verstecken, um abzuwarten, bis das Monster einschlief? Denn man konnte es nicht mit Gewalt, sondern nur durch Überraschung besiegen.
Humo sah ein kleines Loch im Felsen. Kaum hatte sie ihre Flügel zusammengeklappt, stieg ein riesiger Schatten in der Mitte der Höhle auf. Aber was hält das Monster in seinen Krallen? Humo traute ihren Augen nicht: Die gelben Glocken wilder Narzissen hingen in einer der Stahlklauen des schwarzen Vogels. Und in der anderen Kralle duftete ein Strauß frischer grüner Gräser aus dem Tal, bedeckt mit Tropfen des Abendtaues.
Kaum hatte Humo ein Wunder gesehen, geschah das nächste: Dem dunkelgefiederten Herrscher der Großen Berge lief ein zierliches Mädchen entgegen, in der Humo die entführte Tochter des Dorfältesten erkannte.
Gerade als Humo aus ihrem Versteck fliegen wollte, um sich zwischen die Tochter des Dorfältesten und ihren unvermeidlichen Tod zu stellen, streckte das Monster seine klobige Klaue aus und überschüttete das Mädchen mit einem Wasserfall von Blumen. Dann breitete es frisches grünes Gras wie ein Bett aus und machte aus seinen Flügeln eine sanfte Wiege für das Mädchen. Freundlich murmelte es “Gute Nacht” und fiel in einen tiefen Schlaf.
Die Höhle kam ihr nicht mehr unheimlich und kalt vor, der unbekannte schwarze Vogel erschien ihr nicht mehr monströs und die Felsen sahen nicht mehr bedrohlich aus.
Der schwarze Schleier fiel von Humos Herzen, ihr Blick klärte sich. Sie wartete darauf, dass der Schlaf die Berge und das Tal einhüllte, schlich leise aus ihrem Versteck, verließ die erstaunliche Höhle und machte sich auf den Rückweg.
Die Dorfbewohner begrüßten Humo freudig. Aber als sie auf den Rücken ihrer Beschützerin weder ein gerettetes Mädchen, noch ein Schaf oder ein Pferd sahen, waren sie überrascht und fragten: “Wo sind die Beweise für deinen Sieg, o wundersamste aller Vögel?” Humo senkte leicht den Kopf, was ein Zeichen tiefer Nachdenklichkeit bedeutete.
Dann sagte die Feuervogel-Zauberin, dass sie am nächsten Tag bei Sonnenaufgang die Antwort geben wird.
Humo flog den ganzen Tag, den Abend und die Nacht über in ihr Heimatdorf, schaute in die umliegenden Felder, glitt wie ein Schatten über die fernen Pfade und wanderte lautlos um die Häuser herum. Und am nächsten Morgen rief sie die Menschen zu einer großen Versammlung zusammen und fragte: “Was verdient jemand, der die Wahrheit verbirgt und einen anderen ohne Schuld beschuldigt?” “Bestrafung!” antworteten die Menschen.
“Dann bestraft euren Hirten. Er hat nicht auf das Schaf aufgepasst. Es ist in den Wald gelaufen und wurde dort von Wölfen angegriffen”, sagte Humo. Die Menschen stöhnten auf, und der Hirte fiel auf die Knie und flehte um Vergebung.
“Was verdient jemand, der Reichtum auf Lügen aufbauen will?” fuhr der Vogel fort. “Verachtung!” antworteten die Menschen. “Dann verachtet euren Pferdehändler. Er hat das beste Pferd des Dorfes an wandernde Händler verkauft und euch gesagt, dass der Vogel das Pferd mitgenommen hat”, sagte Humo mit trauriger Stimme. Der Pferdehändler erklärte sich vor dem ganzen Volk für schuldig und ihm wurde auch wie dem Hirten vergeben.
“Was verdient jemand, der Feindseligkeit und Hass sät, wo Liebe und Eintracht gedeihen könnten?” dröhnte die Stimme Humos. “Verbannung!”, antworteten die Menschen. Humo wandte sich an das Oberhaupt der Dorfältesten und sagte: “Du weißt besser als jeder andere, dass der monströse Vogel deine Tochter nicht entführt hat. Sie hat selbst beschlossen, das Elternhaus zu verlassen und in der Ferne ihr Glück zu suchen. Du konntest ihr ihren Eigenwillen nicht verzeihen, du hattest Angst vor der Einsamkeit im Alter und bedauertest, dass du deine Tochter nicht als Dienerin für dich erzogen hast. Und dann hast du beschlossen, jemand anderen für dein Unglück verantwortlich zu machen. Es gibt keine Vergebung für dich, denn wer Zwietracht sät, wird Einsamkeit ernten.”
So sprach Humo, wandte sich vom Dorfältesten und von den in Ungnade gefallenen und entehrten Dorfbewohnern ab, breitete die Flügel aus und flog weg – niemand weiß wohin.
Seitdem hat niemand Humo in den umliegenden Dörfern gesehen. Nur gelegentlich bemerkten Menschen, die ein offenes Herz für die Welt haben, einen Regenbogenschein am Horizont und die Funken der Sonne in der Morgendämmerung.
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