17.12.2024
Internationale wissenschaftliche Konferenz zum Thema “Loyalität, Vertrauen, Diskriminierungserfahrung” in Nürnberg

Teilnehmer der internationalen wissenschaftlichen Konferenz in Nürnberg | Bildquelle: BKDR
Vom 18. bis zum 20. Oktober 2024 fand in den Räumlichkeiten des Bayerischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland (BKDR) in Nürnberg eine internationale wissenschaftliche Konferenz statt. Initiiert und durchgeführt wurde sie vom BKDR in Kooperation mit der Wissenschaftlichen Kommission für die Deutschen in Russland und in der GUS (WKDR) unter ihrem Vorsitzenden Prof. Dr. Dietmar Neutatz von der Universität Freiburg.
An der hybriden Konferenz nahmen Historikerinnen und Historiker aus Deutschland, Russland, Kasachstan, Österreich, der Ukraine und Kanada teil. Die Geschichte der Deutschen im Russländischen Reich, in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten bot im Verlauf von zwei Jahrhunderten vielfältige Konstellationen, in denen sich die Frage nach dem Verhältnis zum Staat einerseits und den Erfahrungen mit der Staatsmacht andererseits stellte. Loyalität, Vertrauen und Diskriminierungserfahrungen sind in diesem Kontext hilfreiche Kategorien, die in der neueren Forschung zu multiethnischen Imperien fruchtbar gemacht wurden.
In seinem Einführungsvortrag zum Thema “Das Verhältnis der deutschen Kolonisten zum russländischen Staat und zu Deutschland bis 1918” hat Dietmar Neutatz plausibel nachgewiesen, dass sich deutsche Siedler im ausgehenden Zarenreich trotz wachsender germanophober Propaganda loyal gegenüber dem russischen Staat verhielten. Im Ersten Weltkrieg leisteten sie als Soldaten, Offiziere und Sanitäter (vor allem die Mennoniten) einen treuen Dienst in der russischen Armee, ungeachtet bitterer Erfahrungen von Diskriminierungen und Ausgrenzungen. Anknüpfend an diesen Vortrag zeigte die ukrainische Wissenschaftlerin Natalia Venger, die zurzeit in Kanada lebt und online zugeschaltet war, am Beispiel von Mennoniten die wachsende Enttäuschung über den russischen Staat, die in erster Linie auf antideutsche Staatspolitik und Stimmungsmache ab den 1870er-Jahren zurückzuführen sei.
Mehrere Vorträge beleuchteten dahingehend die Lage der deutschen Minderheit während des Zweiten Weltkrieges, insbesondere nach dem Angriff NS-Deutschlands auf die UdSSR. Irina Tscherkasjanowa aus Petersburg, die ebenfalls online zugeschaltet war, griff das noch wenig beachtete Thema der deutschen Rotarmisten in den ersten Kriegsmonaten auf und versuchte, einzelne Schicksale zu rekonstruieren. In dieser Zeit wurden wesentlich zahlreicher die deutschen Sowjetbürger – auch solche im wehrdienstfähigen Alter – zur Zwangsarbeit herangezogen. Viktor Kirillow von der Universität Jekaterinburg (Online-Zuschaltung) zeichnete aufgrund der Auswertung von mehr als 100.000 Erfassungskärtchen ein düsteres Bild der “mobilisierten Deutschen” in den Arbeitslagern im Ural. Ohne jegliche Arbeitserfahrung und mit Hungerrationen ausgestattet waren sie bei Temperaturen von bis zu – 40°C auf Baustellen und beim Holzfällen im Winter zu Abertausenden zugrunde gegangen. Dieses Kapitel der nationalen Geschichte gehört mit Recht zum festen Bestandteil der russlanddeutschen Erinnerungskultur.
Im gleichen Zeitraum bewegte sich die Darstellung von Vladimir Martynenko (Kiew) über das Verhältnis der Ukrainedeutschen unter der reichsdeutschen Besatzungsmacht. Massenhafte Schikanen, Verfolgungen und blanker Terror seitens des Sowjetstaates in der Zwischenkriegszeit hatten dazu geführt, dass diese Menschen die deutsche Wehrmacht als ihre Befreier sahen und sich größtenteils loyal zu den Besatzern verhielten. Eine Reihe von Referentinnen und Referenten untersuchte darüber hinaus das wandelnde Loyalitäts- und Resistenzverhalten bei den Sowjetdeutschen ab Mitte der 1950er-Jahre, das teilweise durch die verweigerte Gleichstellung mit anderen sowjetischen Völkern bedingt war. Andererseits lassen sich die damals langsam wachsenden privaten und gesellschaftlichen Freiräume neben den (wohlgemerkt unzureichenden) staatlichen Integrationsbemühungen nicht leugnen.
Victor Dönninghaus (Lüneburg) befasste sich mit der deutschen Autonomiebewegung während der Regierungszeit Leonid Breschnews (1964–1982), die oft verklärend als “goldene Jahre der Sowjetzeit” bezeichnet wird. Johannes Dyck (Detmold) untersuchte die Politik des Sowjetstaates nach Stalins Tod (1953) gegenüber den deutschen Freikirchen und arbeitete einzelne Zeitperioden heraus, die mal mehr und mal weniger Spielraum für religiöse Gemeinschaften boten und sich durch ein unterschiedliches Maß an Repressionen auszeichneten.
Seitens der Gastgeber trat Viktor Krieger, wissenschaftlicher Mitarbeiter des BKDR, mit dem Vortrag “Besonderheiten der politischen Dissidentenbewegung der Deutschen in der UdSSR (1970–1985)” auf. In seiner Analyse arbeitete er unter anderem heraus, dass im Vergleich zu den zwei vorangegangenen Dekaden in dieser Zeit eine auffällige Politisierung der Protestbewegungen stattgefunden hatte. Es kam zu Verbindungen mit den Hauptvertretern des sowjetischen Dissidentenbewegung sowie zu Appellen und direkten Kontakten ins Ausland sowie zur Gründung illegaler Komitees und Organisationen.
Olga Litzenberger, ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin des BKDR, schilderte anhand von Zeitzeugeninterviews sowie soziologischen und historischen Analysen die Erfahrungen religiöser Repressionen sowie die Rolle der Religion nach der Deportation der Sowjetdeutschen. Für die Wissenschaftlerinnen aus Kasachstan Julia Podoprigora (Astana) und Tamara Volkova (Almaty) standen verschiedene Aspekte politischer Entwicklungen nach 1991 sowie deren Auswirkungen auf die deutsche Minderheit in Kasachstan im Mittelpunkt ihrer Betrachtung.
Darüber hinaus bekamen während der Konferenz weitere junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Möglichkeit zur Präsentation ihrer laufenden Projekte: Katharina Fondis, Peter Aifeld, Katharina Dück, Alexandra Kolesnikova (König), Tatjana Kohler und Natalja Salnikova.
Am letzten Tag wurden weitere drei Vorträge zur Diskussion gestellt: Der bekannte Migrationsforscher Jannis Panagiotidis schaltete sich aus Wien zu und präsentierte seine Forschungsergebnisse über das Migrationsverhalten von Aussiedlern aus der ehemaligen UdSSR sowie über soziokulturelle Besonderheiten zweiter Generationen und darüber hinaus. Edwin Warkentin (Kulturreferent aus Detmold) sprach unter anderem über die neue Konzeption für die Erinnerungspolitik einer Einwanderungsgesellschaft, die von Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Februar 2024 vorgelegt worden war; er stellte fest, dass dabei die historischen Erlebnisse russlanddeutscher Bundesbürgerinnen und -bürger unberücksichtigt blieben. Der Politologe Felix Riefer (Bonn) plädierte während seines Referats dafür, verstärkt an die Widerstandstraditionen der Russlanddeutschen im sowjetischen Unrechtsstaat zu erinnern, um sich den unverfrorenen russischen Vereinnahmungsversuchen entgegenzustellen.
Redaktion, BKDR
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